Ein pulsierender Hör-Raum

16.06.2020

Der Musikalische Sommer startet mit einem famosen Konzert des Lotos String Quartet. (Mühlacker Tagblatt)

In veränderter Sitzordnung erleben Musiker und Konzertbesucher den Saisonstart. Foto: Fotomoment
In veränderter Sitzordnung erleben Musiker und Konzertbesucher den Saisonstart. Foto: Fotomoment

Mühlacker-Lienzingen. Die Corona-Pandemie hat Konzertbesuchern und Kulturinteressierten entbehrungsreiche Monate beschert. Und Künstler, vor allem freischaffende, mussten und müssen noch immer herbe finanzielle Einbußen hinnehmen. Nachdem die Saison der Klosterkonzerte abgesagt worden war, musste man auch um den „Musikalischen Sommer“ in der spätgotischen Frauenkirche in Lienzingen bangen. Zur großen Freude vieler Konzertliebhaber ist es mit einem speziellen Raumkonzept, das von den Ordnungsbehörden genehmigt werden konnte, schließlich doch gelungen, die beliebte Reihe zu retten.

Es standen deutlich weniger Plätze als üblich zur Verfügung. Die wenigen Zuhörer aber wurden am Sonntag Augen- und Ohrenzeugen eines besonders intimen und intensiven Hörens und Erlebens. Das Lotos String Quartet, das ohne Zweifel zu den bedeutendsten Vertretern dieser Gattung zählt, hatte sich in der Mitte des Kirchenraumes platziert, während die Besucher kreisförmig mit entsprechenden Abständen um das vierköpfige Ensemble herum saßen. Mit dieser ungewöhnlichen Raumanordnung wurde die Konzert-Matinee zu einer höchst anregenden Veranstaltung im mit einem pulsierenden Klanggeschehen erfüllten Hör-Raum.

Drei Preziosen der Konzertliteratur für die Königsdisziplin der Kammermusik hatten Sachiko Kobayashi (erste Violine), Mathias Neundorf (zweite Violine), Tomoko Yamasaki (Viola) und Chihiro Saito (Violoncello) auf das Programm ihres Konzerts gesetzt: Wolfgang Amadeus Mozarts frühes Streichquartett C-Dur KV 157, Felix Mendelssohn Bartholdys mitreißendes Streichquartett e-moll opus 44 Nr. 2, und – nach der Pause – Pjotr Iljitsch Tschaikowskys meisterhaftes erstes Streichquartett in D-Dur opus 11, mit dem weltbekannten Andante cantabile. Bereits Mozarts Streichquartett KV 157 war Balsam für die von Corona geplagte Seele. Die wunderbare Leichtigkeit und Unbeschwertheit dieses Jugendwerkes, das der 17-Jährige auf seiner dritten Italienreise geschrieben hat, war wie geschaffen für einen Wiedereinstieg nach längerer Konzert-Abstinenz. Vom ersten Einsatz an wurde die Klasse des Ensembles gegenwärtig: Die drei Japanerinnen und der Stuttgarter Mathias Neundorf musizierten wunderbar delikat, mit fein ausbalanciertem Flow, einer abgeklärten klanglichen Präsenz, absolut routiniert im Zusammenspiel und stilsicher. Der Eingangssatz in der Form eines Sonatenhauptsatzes, ein beseeltes Moll-Andante und ein Presto-Schlusssatz als ideenreicher Kehraus lassen die bereits in jugendlichem Alter errungene Meisterschaft des Genies Mozart erkennen.

Das Lotos String Quartet begann das viersätzige Mendelssohn-Streichquartett e-moll eher lyrisch als virtuos. Mit sparsamem, wohldosiertem Vibrato kamen die Vier gut in das leicht hallige Kirchenschiff und gaben sich bei thematisch dominierenden Passagen gegenseitig viel Raum. Dynamisch klug ausbalanciert dann die kraftvolle Schlusssequenz des ersten Satzes. Auch im zweiten Satz, einem schnellen Scherzo, kam Lotos String nie in Verlegenheit. Selbst technisch höchste Herausforderungen bewältigt das Quartett ohne Mühe und ohne dass es geistlos mechanisch klänge. Ein liedhaftes Andante mit einer singenden ersten Violine und danach ein aufgewühltes Presto agitato mit weiten dynamischen Bögen, einer reichen thematischen Binnendifferenzierung und virtuosen Zuspitzungen am Ende des vierten Satzes bilden den Schluss des hochromantischen Mendelssohn-Meisterwerkes.

In eine völlig andere, doch ebenfalls romantische Klangwelt führte Tschaikowskys Streichquartett opus 11 in D-Dur. Volkstümlich russisch und zugleich aristokratisch kommt das Erstlingswerk Tschaikowskys daher. In weltabgewandter Schönheit trat das Andante cantabile hervor, bei dessen sensibler Wiedergabe die Welt für einen Moment still zu stehen schien, einen kurzen Augenblick, in dem man hätte flüstern mögen: „Verweile doch, du bist so schön.“ Als hätte das Lotos String Quartett die Befindlichkeit des dankbaren Publikums erspürt, wiederholten die Musiker als Zugabe dieses Juwel. Vielleicht kann man etwas lange Entbehrtes besonders wertschätzen? Die Matinee bewies jedenfalls eindrucksvoll, dass nichts ein Live-Konzert ersetzen kann.

(Mühlacker Tagblatt vom 16.06.2020, Text: Dr. Dietmar Bastian, Foto: Fotomoment)