11.09.2024
Musikalischer Sommer in der Frauenkirche: Die „LIENZINGENAkademie“ überrascht immer wieder mit außergewöhnlichen musikalischen Formaten – dieses Mal mit einer bravourösen Wiedergabe der Tango-Oper „María de Buenos Aires“. (Mühlacker Tagblatt)
Mühlacker-Lienzingen. „Der Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann“, sagte der argentinische Komponist Enrique Santos Discépolo. Auch die Tango-Oper „María de Buenos Aires“ seines Kollegen Astor Piazzolla (1921 bis 1992) ist voll von Trauer und Sehnsucht. In 16 Bildern erzählt die „Operita“ (Werkchen), wie Piazzolla sein Werk liebevoll nennt, die Geschichte von Leben und Tod Marías, die auf der Suche nach Glück aus einem Bairro (Vorort) in die pulsierende Metropole kommt, dort in einem Arbeiterviertel stirbt und zum Mythos wird.
Tango Argentino entstammt ursprünglich dem verruchten Schmuddel-Milieu von Bars und Rotlicht und hat mit dem europäischen Tanzstunden-Tango nur wenig gemein. Piazzolla hat ihn – was viele Landsleute überhaupt nicht gut fanden – „gebändigt“ und salonfähig gemacht, mit dem klassischen Instrumentarium versehen und auf die Konzertpodien geholt. Er habe mit seinem „Tango Nuevo“ den echten und ursprünglichen Tango verraten, hieß es damals.
Mit seiner Oper „María de Buenos Aires“ allerdings brachte der Argentinier den Tango an seinen Ursprungsort zurück – in die Welt der Armen, Prostituierten, Arbeits- und Obdachlosen. „Ich bin María, María Tango, María der Vorstadt, María Nacht, María fatale Leidenschaft, María der Liebe zu Buenos Aires bin ich!“, so stellt sich die Hauptfigur des abendfüllenden Werks in ihrer berühmten Arie selbst vor, bevor die tragisch-surreale Geschichte ihren Gang nimmt – begleitet von der einzigartigen, hocherotisch-erdigen Musik des großen Tango-Erneuerers.
Nachdem Simon Wallinger und seine Akademiefreunde sich im vergangenen Jahr mit der Commedia dell’Arte auseinandergesetzt haben, sollte es in diesem eine Begegnung mit dem Tango Argentino werden. Wallinger, der seit 2023 Solo-Kontrabassist beim Südwestdeutschen Kammerorchester Pforzheim ist und immer wieder als Dirigent in Erscheinung tritt, hatte bei der Zusammenstellung des Ensembles für die kammermusikalische, teilszenische Aufführung des Stoffes ein besonders glückliches Händchen.
Besetzung singt und spielt auf hohem Niveau.
Nicht nur die beiden Gesangspartien waren mit der mexikanisch-amerikanischen Altistin Mónica Soto-Gil in der Titelrolle und dem aus Argentinien stammenden Tenor Santiago Bürgi als Stimme des Volkes, Träumer, Anführer der Diebe, Psychoanalytiker und Stimme des Sonntags glänzend besetzt. Leonel Gasso als hochprofessioneller Bandoneón-Virtuose war ebenfalls eine allerbeste Wahl.
Auch die weiteren Mitwirkenden (der Sprecher Johann-Michael Schneider als „Der Geist“, und das Tango-Kammerensemble mit Markus Däunert, Violine, Elya Levin, Flöten, Konstanze Bodamer, Violoncello, Sophia Weidemann, Klavier, Markus Hauke, Perkussion, und Simon Wallinger, künstlerische Leitung und Kontrabass) agierten allesamt auf hohem solistischem Niveau.
Es schien am Ende kaum vorstellbar, dass dieses großartige Ergebnis in nur fünf Probentagen erzielt werden konnte. Das gegenüber einer Opernhausaufführung mit großem Orchester sehr reduzierte Instrumentarium erwies sich sogar als Vorteil – im Hinblick auf Transparenz, Prägnanz und individuellem Klanggeschehen. Die Oper enthält raffinierte Gesangsnummern, aberwitzige schnelle und zerrissen wirkende Instrumentalsätze, balladeske Passagen, satztechnisch überraschende Ostinati und ein überbordendes Quantum synkopischer Rhythmen, die für den Tango so typisch sind. Ganz große Klasse Mónica Soto-Gil, die exakt das Bild einer leidenschaftlichen und leidgeprüften dunkelhaarigen Frau verkörpert, das Piazzolla vorgeschwebt haben könnte. Santiago Bürgi – eine sängerische Ausnahmeerscheinung, die den „Idomeneo“ am Theater Pforzheim genauso glanzvoll bewältigt wie das Genre des Tangos.
„María de Buenos Aires“ ist ein einzigartiges, viel zu selten gespieltes theatralisches Gesamtkunstwerk. Zu den surreal-lyrischen Texten des uruguayischen Dichters Horacio Ferrer schuf Piazzolla eine Musik, die über den Tango Argentino hinausgeht. Ein Werk, das in jeder Hinsicht grenzüberschreitend ist und in dem sich Mystik und Realität, Oper und Spiel vermischen. Nicht zuletzt ist Piazzollas „Operita“ eine Hommage an die lebhafte Hauptstadt Argentiniens, an den Tango und das Bandoneón, das wahre Herz dieser wunderbaren Musik.
(Mühlacker Tagblatt vom 11.09.2024, Text und Foto: Dr. Dietmar Bastian)