Spielfreude nach Noten und mit Worten

14.09.2021

„Musikalischer Sommer“ in Lienzingen wartet mit einem ganz besonderen Programm auf: mit beeindruckendem Musiktheater. (Mühlacker Tagblatt)

Die Musiker können beides: Strawinskys geballt rhythmische Tonsprache umsetzen und parallel dazu auch mit frühbarocken Klängen vertraut sein. Foto: Filitz 
Die Musiker können beides: Strawinskys geballt rhythmische Tonsprache umsetzen und parallel dazu auch mit frühbarocken Klängen vertraut sein. Foto: Filitz

Mühlacker-Lienzingen. Auch in diesem Jahr trafen sich in der „Lienzinger Akademie“ junge, hochtalentierte Musiker aus verschiedenen Nationen und erarbeiteten in nur fünf Tagen ein Programm, das den bisher üblichen Rahmen durchbrach und durchaus ein Aufbruch zu neuen Ufern sein könnte. Hilfreich war es, dass sich die Akteure bereits aus Studienzeiten kannten, teils hatten sie auch schon gemeinsam musiziert. Nur so war es möglich, dass sich in so kurzer Zeit Violine, Percussion, Kontrabass, Trompete, Posaune, Klarinette und Fagott zu einem harmonischen Ensemble zusammenfinden und unter der bewährten Leitung von Simon Wallinger ein weitgestecktes Ziel ansteuern konnten. Als „Podium junger Künstler“ präsentierten sie am Samstagabend und am Sonntag in einer Matinee in der Frauenkirche Igor Strawinskys „Die Geschichte vom Soldaten“.

Um es vorwegzunehmen: Das Publikum war begeistert und dankte mit viel Applaus. Was war nun das Neue? Schon die bunte Mischung der Instrumente konnte neugierig machen. Nicht ein bisher übliches Instrumentalkonzert wurde geboten, sondern lebhaftes Musiktheater. Den Stoff dazu fand der Komponist in zwei alten russischen Märchen. Ein Geige spielender Soldat mit Namen Josef schließt auf seinem Heimmarsch unerwartet einen Pakt mit dem Teufel, der ihm trickreich seine Geige abluchst. Als Gegenleistung erhält Josef ein Zauberbuch, dass ihn unglaublich reich macht. Doch sein Reichtum macht ihn auch unerträglich einsam. Alles kann er sich kaufen, aber nicht das, was das wirkliche Leben ausmacht. Die Geige gewinnt hier symbolische Bedeutung. Sie war nicht nur sein Instrument, sondern steht als Symbol für seine Seele. Und die hat er dem Teufel beim Tausch Geige gegen Buch mitverkauft.

Jetzt bietet er dem Teufel Unsummen, um die Geige zurückzukaufen. Josef kommt zu einem Königshof. Die kranke Prinzessin kann er mit seinem Spiel heilen, sie wird seine Frau. Als ihn Heimweh packt, will er mit ihr zurück in seine Heimat. Doch der einst geschlossene Pakt setzt ihm Grenzen. Als er eine überschreitet, ist es aus mit ihm. Der Teufel jagt ihn in die Hölle.

Für eine Wanderbühne komponierte 1918 Igor Strawinsky, der damals im Schweizer Asyl lebte, daraus ein bewegtes und bewegendes Musikstück, das durch tempo- und rhythmusreiche Klangbilder besticht. Unter der zupackenden Führung ihres Leiters setzten seine „Akademieschüler“ diese mit großer Präzision, raumgreifender Dynamik und auch mit sichtbarer Spielfreude um. Musikalische Zwischenspiele, einfühlsam in verschiedener Besetzung intoniert, vermittelten ein anschauliches Bild der verschiedenen Szenen. Das Libretto, verfasst von Charles F. Ramuz, sah im Original Sprecherrollen für einen Vorleser und den Soldaten vor, für den Teufel eine Sprech- und Tanzrolle und für die Prinzessin nur eine Tanzrolle. Für die Aufführung in der Frauenkirche musste ein neues Konzept entwickelt werden. Mit dem Berliner Schauspieler Johann-Michael Schneider, der alle drei Sprecherrollen übernahm, hatte Wallinger einen Volltreffer gezogen. Mit seiner, der jeweiligen Situation angepassten ausdrucksstarken Mimik, dazu lebhaft unterstrichen durch Gestik und Körpereinsatz, gelang es Schneider, auch den tieferen Sinn der Erzählung dem Publikum vor Augen zu führen. Denn die Texte haben auch nach 100 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt.

Zufall mag sein, dass es damals die Spanische Grippe war und heute die Corona-Pandemie die Gesellschaft knechtet. Doch die Gier nach Geld und Profit grassiert immer noch – eher stärker als je zuvor. Nur die Erkenntnis des Soldaten, dass der Mensch mit vollen Taschen doch arm und leer dastehen kann, ist noch nicht zu Allgemeinwissen mutiert.

Mit den festlichen Klängen von Tocatta, Ritornello und einer Sinfonia aus Monteverdis vor über 400 Jahren entstandener Oper „Orfeo“ stellten die Musiker Strawinskys, in den 20er Jahren fast revolutionär anmutende „neue“ Musik in einen frühbarocken Rahmen. Jedoch auch in „Orfeo“ stehen der „Blick zurück“ und Fragen zur „Zeit danach“ im Zentrum der Handlung.

(Mühlacker Tagblatt vom 14.09.2021, Text u. Foto: Eva Filitz)